Beispiel für Liner Notes: Poor Genetic Material

Die untenstehenden Liner Notes habe ich auf Bitten der Band für „Island Noises“ (2011) von Poor Genetic Material geschrieben. Die Band äußerte sich hochgradig entzückt, das Album erschien allerdings dann doch ohne Liner Notes.

Reif für die Insel

Poor Genetic Material waren so weit. Waren nicht nur reif für eine längere Auszeit – die gab es früher auch schon. Sondern die Band war nach ihrem Jahreszeiten-Zyklus und dem erfrischend anderen Eden-Trip „Paradise Out Of Time“ nun reif für die musikalische Beschäftigung mit einem, mit dém Shakespeare-Drama, mit dem sich auf einer geheimnisvollen Insel vollziehenden „Sturm“.

Warum Shakespeare? Den nennt man ja nicht umsonst den „Barden“. „If music be the food of love, play on, Give me excess of it“, ließ er einen seiner Protagonisten schon in „Twelfth Night“ fordern. Shakespeare-Wissenschaftler glauben erschließen zu können, dass er Musik liebte. Und wir wissen, dass Musik zumindest für Teile der Aufführungshistorie seiner Stücke von großer Bedeutung war. Diese Liebe beruht bis heute auf Gegenseitigkeit: Bücher und Doktorarbeiten ließen sich füllen mit den Bühnenmusiken, Opern oder Filmen, die vom Shakespeare-Kanon direkt oder mittelbar beeinflusst worden sind – von Jean Sibelius bis zu Peter Greenaway. Doch auch die Musiker „unserer Tage“ zeigen sich fasziniert von dem Genie aus Stratford-upon-Avon. Den Beweis treten Rock-Stücke (z. B. „Something Wicked This Way Comes“, „Romeo and Juliet) ebenso an wie diverse Bandnamen (alle Bühnenschurken werden hier gern genommen, so natürlich auch Caliban und Shylock), darunter auch solche, die so gerade noch (Macbeth) wie auch solche, die an vorderster Stelle dem progressiven Genre zugerechnet werden können (Twelfth Night).

Warum „The Tempest“? Gegenfrage – Kann es eine bessere Steilvorlage für die Phantasie von Klangmalern und ihrem Publikum geben? In diesem Panoptikum begegnen wir einem Zauberer benebst Luftgeistern und einem deformierten Monster. Das Drama handelt von nichts Geringerem als der Liebe, von Intrigen, Amtsmüdigkeit versus skrupelloser Machtpolitik, von versuchtem Attentat und Vergewaltigung. Wir erleben, wie Sturm und Schlaf durch Magie herbeigeführt werden. Für Unterhaltung wie Denkanstöße ist wahrlich gesorgt. Und dann wäre da noch die Poesie von Shakespeares-Alterssprache…

Das Ziel hätte also höher kaum gesteckt werden können. Doch Poor Genetic Material haben es mehr als erreicht. Wer das Drama kennt, muss seine Portionierung auf die 14 Stücke dieses Doppelalbums bewundern. Ohne stumpfes Abarbeiten von Akt und Szene ist hier die Essenz von „The Tempest“ in Musik gegossen, die so wildschön und so geheimnisvoll wie das Theaterstück selbst ist. Die Verteilung der Parts von teils mehreren Akteuren auf die einzelnen Songs ist bravourös gelungen. Auch wenn es für alle „nur“ Phil Griffith als Sprachrohr gibt, hat doch jeder seine eigene Stimme. Es ist ein Vergnügen, die einzelnen Rollen und teils so berühmten Zeilen wieder zu entdecken. Doch erwiesenermaßen ist es ebenso möglich, „Island Noises“ in vollen Zügen zu genießen, wenn die Vorlage völlig unbekannt ist.

Der von PGM für dieses Album geschaffene Klangkosmos ist beeindruckend und völlig eigenständig, gleichwohl scheinen doch einige Ikonen des progressive Rock als Luftgeister durch die Kulissen zu schweben: Triumvirat („Roarers“), Camel („Brave New World 1“), Tony Banks, Bo Hansson („Island Noises“) oder Steve Hackett („Drowning The Book“). Und Beggar’s Opera ja ohnehin.
„Enough said“! Dieses Album kann für sich selbst sprechen, denn es ist in der Tat „full of noises“, full of „sweet airs that give delight“.